Carlos Barros
Universidad de Santiago de
Compostela
1. Chiapas bezeichnet die Rückkehr des gesellschaftlichen Subjekts in die Geschichte und die Geschichtsschreibung. In Spanien - und ich denke, dass sich dasseibe für Lateinamerika und andere 0rte sagen lässt - wurde in den sechziger und siebziger Jahren das Studium der Konflikte, Aufstände und Revolutionen mit großer Aufmerksamkeit betrieben. Danach, in den achtziger Jahren, verebbte das Interesse der Historiker für diese Themen, in Lateinanierika zweifellos weniger als in Europa. Jetzt, in den neunziger Jahren, erleben wir - wenn auch mit geringerem militanten Anteil als vor zwanzig Jahren - einen Aufschwung dieses Interesses in der spanischen Geschichtsschreibung, obwohl in unserem Land keine mit Mexiko und Frankreich vergleichbare Rückkehr des gesellschaftlichen Subjekts in die Geschichte stattgefunden hat - Beweis für den wachsenden Einfluss des globalen Kontextes: Wir erleben dank der neuen Komrnunikationsmedien als nah, was in den entferntesten Gegenden geschieht.
Ich möchte drei
Momente benennen, welche die Rückkehr des gesellschaftlichen Subjekts in den
neunziger Jahren bedingen. Erstens die Revolutionen in Osteuropa zwischen 1989
und 1991, mit der ausschlaggebenden Beteiligung der Massen auf der Straße sowie
einigen prodemokratischen und prokapitalistischen Zielen. Zweitens den Aufstand
von Chiapas 1994, init einigen ebenso prodemokratischen, jedoch dem
Neoliberalismus entgegengesetzten Zielsetzungen, wodurch klar wird, dass es
sich um einen Wendepunkt handelt - was etwa durch den Volksaufstand in Albanien
von 1997 bestätigt wird, der eine den Ereignissen von 1989 bis 1991
entgegengesetzte Tendenz hat: gegen die Banken-Hierarchie, die durch den
mafiosen Kapitalismus der neucn Nomenklatura installiert wurde. Drittens die
jüngsten sozialen Bewegungen in Frankreich zwischen 1995 und 1998, von den
Mobilisierungen der Studenten und der Angesteilten in Öffentlichen Dienst gegen
die neoliberale Politik Alain Juppés im Dezember 1995 über die großen
Demonstrationen gegen das Gesetz Debré und gegen den Front National, die an den
Mai '68 erinnerten und den überraschenden Wahisieg Lionel Jospins und der
pluralen Linken bewirkt haben, bis hin zum organisierten Aufstand der
Arbeitslosen - zum ersten Mal - von 1998. Die neuen sozialen Bewegungen in
Frankreich gaben den sozialen Kämpfen gegen den Neoliberalismus - und damit der
Universalität des Chiapas-Aufstandes - Recht und weiteten site aus. Frankreich
ist Europa und außerdem - seit den Zeiten von Marx - ein gutes Thermometer, utn
die Temperatur der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Welt zu messen.
In den sozialen
Aufständen der neunziger Jahre stoßen wir auf etwas Erstaun- liches - wir, die
wir unser Bildungserlebnis dem französischen Mai verdanken, auch wenn er in
meinem Fall der madrilenische Mai
war: ein neuartiges Verhältnis von sozialer Mobilisierung und
Regierungswechsel.[2]
Nach dem Mai gewann der Gaullismus die Wahlen, aber in Folge der aktuellen
sozialen Mobilisierungen in Frankreich gewann die politische Linke - die sich
jetzt Mühe gibt, diesen Sieg zu verdienen -, und in Albanien fand die durch den
Volksaufstand offenbar gewordene Krise ihre Lösung ¡m Wahlsieg der ehemaligen
Kommunisten. In Mexiko lässt sich dieses Phänomen bislang nicht feststellen,
vielleicht weil der Volksaufstand nicht den nötigen Umfang gewonnen hat, obwohl
doch der Sieg Cuautémoc Cärdenas in Mexiko Stadt eine Menge mit der Revolution
von Chiapas zu tun haßen dürfte.
Es ist offensichtlich,
dass diese neue Verbindung zwischen sozialer Rebellion und Wahiergebnissen
zugleich die Krise des westlichen politischen Systems zeigt; es fehlt ihm an
Formen politischer Beteiligung jenseits des Wahlrechts alle vier Jahre, und die
Krise bekräftigt - im Blick aufs 21. Jahrhundert - die Notwendigkeit einer
Kornbination von repräsentativer Demokratie und direkter Demokxatie, wie der
Neozapatismus dies antizipiert hat.
Die Wiederkehr der
groß3en Demonstrationen in den neunziger Jahren ist ein allgemeines Phänomen.
Zu erwähnen sind auch - wenn wir innerhalb der westlichen Welt bleiben -
diejenigen, die in Belgien gegen die Kinderschänder und deren politische
Komplizen stattgefunden haben; die Million schwarzer Männer und Frauen, die in
den USA demonstrierten; die sechs Millionen Spanier, die im Juli 1997 gegen den
Mord an Miguel Ängel Blanco auf die Straße gingen (die großte Demonstration in
der spanischen Geschichte). Das 2 1. Jahrhundert kündigt sich als ein
Jahrhundert der Massen an, wie schon das zu Ende gehende Jahrhundert ein solches
war, freilich auf andere Weise.
Für die
Geschichtsschreibung des Jahrhundertendes ist diese Rückkehr des
gesellschaftlichen Subjekts eine große Neuheit, weil bisher mit der Rede von
der >Rückkehr des Subjekts< eher ein individuelles, politisches, narratives
Subjekt gemeint war, keinesfalis ein kollektives, eines der Masse, der
>einfache Mann< - Begriffe, die durch die Geschichte und die
Geschichtsschreibung als Vorstellungen des historischen Materialismus und der
Annales-Schule der sechziger und siebziger Jahre überholt schienen. Allerdings
ist, was Vergangenheit scheint, nicht seiten Zukunft, die sich bekanntlich
niemals wiederholt, es sei denn ais Farce.
2. Das naive Vertrauen
in die Idee des geradlinigen und unbegrenzten Fortschritts ist seit langern in
einer Krise. Wir wissen, dass die technologischen und ökonomischen Fortschritte
nicht automatisch die Glückseligkeit der Menschheit bewirken. Der technische
Fortschritt führte die großen Kriege mit sich, die Zerstörung der Umwelt und
die Marginalisierung der >Dritten Welt<, die jetzt zur >Ersten
Welt< gehört. Rasch wurde der Gedanke eines Fortschritts durch
Gesellschafts- veränderung entwertet und das >Ende der Geschichte< ausgerufen:
das Schlüssel- datum ist 1989. Und dann der 1. Januar 1994, der für viele den
Wiederbeginn der Geschichte bedeutet, sofern man sie als Fortschritt versteht.
Das Leitparadigma der
Historiker des 20. Jahrhunderts, das besagte, dass unsere Funktion im Studiurn
der Vergangenheit bestehe, um die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu
konstruieren, wurde in letzter Zeit in zwei Rie
tungen problematistert: Entkoppelung
Vergangenheit/Gegenwart und Entkoppelung Vergangenheit/Zukunft. Einerseits
haben wir einen Aufschwung des Akademismus, des Individualismus und des
Des-Engagements erlebt, das, begleitet von allerlei »Post-«, uns entschieden
von den Beunruhigungen der Gegenwart ablenkt. Andererseits leiden wir an einem
Desinteresse an der Zukunft, das für uns schwerwiegender ist als das
Zurückbleiben gegenüber dem Aktuellen, weil das >Einheitsdenken< die
Zukunft als etwas von der Gegenwart gänzlich Verschiedenes negiert, weil es für
viele Jugendliche in Ländern wie Spanien sowie überhaupt für die Benachteiligten
auf der ganzen Welt die Perspektive einer besseren Zukunft nicht mehr gibt.
Habermas brachte das, sich auf Benjamin beziehend, so zurn Ausdruck: »Die
Erwartung des künftigen Neuen erfüllt sich allein durch das Eingedenken eines
unterdrückten Vergangenen.« (1985, 21) Und Marcos schrieb in, El País vom 29. März 1995, in einem
Artikei mit dem Titel Laflor prometida (Die
versprochene Blume), als Antwort auf die spanischen Intellektuellen, die eine
politische Lösung für Chiapas gefordert hatten: »und wir hatten unsere
Geschichte nur, urn uns zu verteidigen ... ein Land das seine Vergangenheit
vergisst, kann keine Zukunft haben ... wir setzen auf die Gegenwart, un eine
Zukunft zu haben; und um zu leben, sterben wir«. Marcos stimmt also, vom
Standpunkt seiner gesellschaftlichen und politischen Praxis, mit Haberinas und
Benjamin überein. Ich weiß nicht, ob er sic gelesen hat, aber diese
Übereinstimmung des Chiapas-Aufstandes und der Frankfurter Schule markiert
unter anderem die Bedeutung der Traditionen des heterodoxen Marxismus für die
künftige Debatte.
Vom Standpunkt
historiographischer Praxis habe ich bereits darauf hingewiesen (Barros 1995),
dass angesichts des neuen Paradigtnas der Geschichte das Verhältnis
Vergangenheit/Zukunft - einer Zukunft bar aller ehernen Notwendigkeiten oder
Messianismen-wichtiger ist als das Verhältnis VergangenheiVGegenwart; denn ohne
Vergangenheit gibt es keine Zukunft, und die Zukunft der Geschichte hängt davon
ab, dass die Geschichte sich Gedanken macht um die Zukunft.
Wie immer der Aufstand
von Chiapas schließlich ausgehen wird, sein Beitrag zum Schreiben der
Geschichte ist bereits untilgbar; er hat den Begriff der geschichtlichen Zeit
selbst verändert, die weder zyklisch ist, wie es die Tradition wollte, noch
deterministisch linear, wie wir es vor zwei Jahrzehnten glaubten: Sie ereignet
sich in Sprüngen, ohne Netz - das ist das Beispiel der Indios von Chiapas, die
sich aufmachten, die Welt zu verändem, ohne zu wissen, was der kommende Tag für
sie bereithielt, und dem Engel der Geschichte begegneten.
3. Es wurde gesagt,
dass der Aufstand von Chiapas das beste Beispiel einer »postmodemen Guerilla«
sei. Allerdings wäre er dann etwas, was seine Protagonisten gerade ablehnen,
und zudem scheinen Volksaufstände nicht gerade ein Merkmal des Postinodernismus
zu sein. In der Tat ist der Aufstand postmodem aufgrund seines Antidoginatismus
und seines kritischen Talents (insofern sind wir freilich alle postmodern);
allerdings wendet er sich in keiner Weise gegen den Moderne-Diskurs und die
Aufklärung (was gerade das bestimmende Grundelement des wirklichen postmodernen
Denkens ausmacht), welche die Veränderung der Gesellschaft mittels der Vemunft
und der Revolution beansprucht - die Zapatistas stehen für die Wiederkehr der
Moderne (oder besser noch: die Suche nach einer anderen Moderne), weshalb man
sie als neue Aufklärer kritisiert hat, weiche die Dreieinigkeit von
»Demokratie, Gerechtigkeit und Freiheit« zur Achse ihres Kampfes gemacht haben,
vergleichbar der Französischen Revolution.
Auch ist die EZLNI[3]
nicht postmodern, wenn sie die Fragmentierung des geschichtlichen Subjekts
bekämpft, indem sie in Mexiko eine oppositionelle Front oder ein
»intergalaktisches« Treffen mit Leuten aus der ganzen Welt organisiert.
Nach diesem Abstecher,
mit dem umnittelbare Geschichte, Geschichtsschreibung und Geschichtsphilosophie
in Zusammenhang gebracht wurden, frage ich abschiießend nach den mög1ichen
Szenarien für das Schreiben von Geschichte im 2 1. Jahrhundert, von denen sich
m.E. drei unterscheiden lassen:
1. Das neue Paradigma kann die Fortsetzung der Fragmentierung sein, der auf die Spitze getriebene Eklektizismus, das Nichts, wie es die reine Lehre des Postmodemismus vorschlägt.
2. Das neu'e Paradigma kann sich ais Gang zurück herausstellen, ins 19. Jahrhundert, hin zu einer gelehrten, positivistischen Geschichte, in Entfernung von der Welt, oder hin zu einer Geschichte, die sich mit der Literatur identifiziert, oder beides zugleich.
3. Das neue Paradigma kann in einer schöpferischen Synthese aus Moderne und Postrnoderne, den großen Schulen der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts und den neuesten innovatorischen Tendenzen bestehen. Zweifellos die wahr-scheinlichste und attraktivste Lösung.
Ich nehme an, dass
diese neu-alte Geschichte besser - besser als die neueste oder die älteste -
mit den Herausforderungen der globalen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts
zusammengeht. In meinem bereits erwähnten Beitrag zum Ersten Internationalen
Kongress »Historia a Debate« (Santiago de Compostela 1993) vertrat ich die
Auffassung, dass die neunziger Jahre sich eher als die achtziger für die
Herausbildung eines neuen Paradigmas eigneten, d.h. für einen neuen Konsens
darüber, wie der Beruf des Historikers auszuüben ist, der die
Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts nicht in Bausch und Bogen verwirft.
Man hielt mir meinen Optimismus vor, aber die Wirklichkeit gibt mir Recht. Dank
Chiapas.
Aus dem Spanischen von
PeterJehie
Barros, Carlos, 1995: »La historia que
viene«. In: Historia a debate, Bd.1, Santiago de Compostela
Habermas, Jürgen, 1985: Der philosophische
Diskurs der Modeme. Frankñut/M
[1] Überarbeitete Fassung eines Vortrags mit dem
Titel »Chiapas und die Schrift der Geschichte«, gehalten im April 1998 in
Universitäten in Mexiko Stadt und San Cristóbal de las Casas.
[2] Dieses neue Verhältnis zwischen Demokratie und
Aufstand dementiert - und hebt dialektisch auf - sowohl die antirevolutionären
Positionen der klassischen Sozialdemokratie wie die antidemokratischen
Positionen des orthodoxen Kommunismus.
[3] Ejército Zapatista de Liberación Nacional -
wörtlich: Zapatistische Armee nationaler Befreiung. - Die realistischste
Verortung der Bewegung der Zapatistas mit ihren vormodernen, modernen und
postmodernen Merkmalen wäre diejenige in einem erst umrisshaft zu erkennenden
Post-Postmodemismus.